Ich habe die DDR vor dem Mauerfall verlassen und hier…
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Toggle1 Million
Ich bin Elke.
Ich liebe den frühen Morgen, die klare kalte Winterluft, das Knirschen von Schnee unter meinen Füßen, Langlauf durch unberührte Landschaften.
Ich liebe den Duft reifer Quitten und sich öffnender Pfingstrosen.
Ich liebe es, unter freiem Himmel zu schlafen, ohne Zelt.
Ich liebe die kalte Dusche am Morgen, weil sie mich klar macht.
Ich liebe das Schwimmen im Fluss und im Meer.
Ich liebe meine Kamera und ich liebe es, mit ihr auf Entdeckungsreisen zu gehen.
Ich liebe Selbstportraits.
Ich liebe Pflanzen in ihrer Vielfalt und Heilwirkung.
Ich liebe Afrika und seine Bewohner.
Ich liebe es, etwas Neues auszuprobieren und zu erlernen, um meinen Forschergeist zu füttern.
Ich liebe meine Freiheit.
Wir sind nicht nur eine Farbe
Als mein Mann und ich uns kennenlernten, war es schon sehr spät für ein gemeinsames Kind.
Früher, in unseren vorher gelebten Leben, hatten wir beide keinen Kinderwunsch gehabt.
Alles war also ok so für uns, wie es war.
Dann, im Jahr 2015, als viele Geflüchtete Deutschland erreichten, entstand hier in unserer Nähe eine Unterkunft für 250 Menschen.
Zu diesem Zeitpunkt waren wir gerade zurückgekehrt von unserer Reise durch den Iran. Überall dort haben wir gastfreundliche und offene Menschen getroffen, die uns eingeladen haben, mit ihnen zu essen und zu feiern. Da ich schon vorher viel gereist bin und mich immer nur an warmherzige, hilfsbereite und intensive Begegnungen erinnern kann, war für mich die Zeit gekommen, etwas zurückzugeben. Es war mir einfach wichtig, eine Herzensangelegenheit.
Von dem Augenblick an, als die Entscheidung gefallen war, gingen wir beide jedes Wochenende ins Camp, um dort zu helfen. Es kamen viele Leute zu unserem alternativen Deutschunterricht, den wir uns ausgedacht hatten. Wir gingen mit ihnen spazieren, zeigten die neue Umgebung, luden sie zu uns nach Hause ein und erfuhren ihre persönlichen Geschichten.
Eine umwerfend charmante Zahnlücke
Im Camp gab es auch eine Tischtennisplatte, die unglaublich beliebt war und immer belagert wurde. Meist sprangen zehn Jungs um sie herum. Am Schluss waren ganz oft zwei übrig – mein Mann und jemand namens Edward mit einer charmanten Zahnlücke und breitem Lachen, der einen sehr speziellen, besonderen Stil hatte, den Ball zu schmettern.
Und dann gab es da diesen einen besonderen Abend bei uns zu Hause. Es wurden Spezialitäten aus Afghanistan und Eritrea gekocht. Das erste gemeinsame Foto zeigt meinen Mann und Eddy eng nebeneinander stehend beim Gemüse schnippeln. Es sieht so aus, als kennen sich die beiden schon eine halbe Ewigkeit. Das war der Beginn unserer Geschichte.
Wir wurden bald danach gefragt, ob wir eine Patenschaft übernehmen möchten. Für mich war sofort klar, dass nur Eddy dafür in Frage kommt. Warum?
Ich habe eine besondere Liebe zu Afrika und fast alle westafrikanischen Länder bereist, in denen Französisch die Verkehrssprache ist. Ich hatte damals begonnen, diese Sprache zu lernen und ich wollte einfach viel sprechen. Und etwas Anderes war da noch. Jedesmal konnte ich mich komplett fallen lassen wie noch in keinem anderen Kontinent vorher. Ich hatte immer das Gefühl von tiefer Verwurzelung und dass ich in einem meiner früheren Leben einmal dort gelebt hatte.
Und Eddy ist Afrikaner. Geboren in Ghana. Ich musste überhaupt nicht überlegen. Es war sofort eine Verbindung zwischen ihm und mir da. Ab da erfuhr ich Stück für Stück seine ganze Geschichte.
Er verließ das Haus seiner Pflegemutter, als er dreizehn war. Niemand wollte ihm sagen, was mit seinen Eltern passiert war. Er entschied sich zu gehen.
Von da ab war er unterwegs. Immer nahm ihn jemand mit. Er jobbte in Togo und Nigeria und landete schließlich in Libyen. Es waren die letzten Jahre von Muammar al-Gaddafi.
Er fand Menschen, die ihn aufnahmen und lernte schnell die arabische Sprache. Dann kam der Krieg und mit ihm Bomben und Rebellen. Er hatte keine Wahl. Es wurde zu gefährlich für Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Es gab nur diesen einen Weg – mit einem Schlauchboot übers Mittelmeer. Und er konnte nicht schwimmen.
Es war ihm gut gegangen in Libyen.
Er hatte keine Ahnung, wo Europa liegt.
Es war nicht seine Idee zu flüchten.
Mom and Dad, I miss you
Eine Patenschaft bedeutet, Hilfestellung zu geben beim Besuch von Ämtern und Behörden, Briefe zu übersetzen, Menschen zu begleiten. Aber ganz schnell wurde mir klar, dass das nicht ausreicht. Es gab praktisch keine Unterstützung für Eddy, da er aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kam. Ein Platz in einer Sprachenschule musste gefunden werden, Firmen für ein Praktikum wurden kontaktiert. Und so hatte ich zum zweiten Mal in meinem Leben Berührung mit Sozialamt und Jobcenter. Das erste Mal war ich selbst in einer ähnlichen Situation gewesen, als ich 1988 aus der DDR kam. Die Erinnerungen an das endlose Warten, das Ausfüllen von Papieren, waren sofort wieder präsent. Ich hatte nichts, ich kannte niemanden. Nur die Sprache war dieselbe.
Ich konnte mich also ganz gut hineinversetzen in Eddys Situation.
Als ich mit meinem Mann im Winter 2016 im Skiurlaub war, hatten wir die ganze Zeit über engen Kontakt per WhatsApp zu Eddy. Wir kannten uns zu diesem Zeitpunkt vier Monate. Und dann kam diese Nachricht: „Mom and Dad … I miss you.“
Es überraschte uns. Das hatten wir nicht erwartet. Aber es fühlte sich auch ziemlich gut an.
Aus der Patenschaft wurde schnell mehr. Wieder zu Hause, haben wir Eddy einfach vorgeschlagen, bei uns einzuziehen. Platz war da und wir wollten uns alle drei näher sein.
Meine Schwangerschaft, die nur vier Monate gedauert hat
An einem Abend kurz vor Ostern – wir liegen schon im Bett und sprechen über dies und das – schaue ich meinen Mann an und sage zu ihm: “Denkst du gerade an dasselbe wie ich?“
Er: “Adoption?“
Als wir Eddy am nächsten Tag davon erzählen, fällt er uns einfach um den Hals.
Wir haben uns verliebt.
Wir haben nichts hinterfragt.
Wir haben aus unserem Herzen heraus reagiert.
Es vergehen vier Monate für die Beantragung der Adoption, bevor wir den offiziellen Termin haben. Der Familienrichter fragt Eddy, für welchen Familiennamen er sich denn entschieden hat. Er möchte am liebsten alle drei Namen: meinen, den meines Mannes und seinen. Da das nicht funktioniert, muss er sich entscheiden. Es fällt ihm schwer. Ich sage zu ihm: “Nimm den Namen von Daddy zu deinem Namen, das ist doch schön. Und für mich ist es ok.”
Es ist eine Erwachsenenadoption. Eddy ist 21. Er hat keine Eltern mehr. Ich habe meinen Sohn gefunden.
1 Million – 1 Million Schritte – 1 Million Gedanken – 1 Million Hoffnungen
Zu diesem Zeitpunkt bin ich im letzten Drittel meines Studiums an der Freien Akademie der Bildenden Künste fadbk in Essen und dabei, ein Thema für meine Abschlussarbeit zu suchen.
Seit wir zusammenleben, habe ich immer wieder Fotos gemacht von Eddy in seiner neuen Umgebung.
Dann dieser Traum – mein Traum.
Ich habe geträumt,
du wirst eines Tages gehen,
so wie du gekommen bist.
Und Eddys Antwort, als ich ihm davon erzähle:
Aber warum sollte ich das tun?
Ich habe doch das erste Mal
in meinem Leben eine Familie.
Ich habe das Thema für meine Abschlussarbeit gefunden. Es ist mir zugefallen. Seit wir zusammenleben, habe ich immer wieder Fotos gemacht von Eddy in seiner neuen Umgebung.
Ein Jahr lang habe ich unser Zusammenleben seit meinem Traum konsequent fotografisch begleitet. Daraus ist eine siebenteilige Installation entstanden. Hauptbestandteil davon ist ein Buch mit dem Titel
„1 Million“.
In diesem Buch zeige ich fotografisch ein Jahr unseres Zusammenlebens. Hier findest du einen Blick ins Buch.
Ihr seid anders und ich bin auch anders
Als wir vor vier Jahren im Sommer mit dem Abschiebebescheid konfrontiert werden, ist Eddy derjenige von uns dreien, der am ruhigsten ist.
Ich schreibe Anträge, Petitionen und sammle Unterschriften, damit er bleiben darf. Wir übernehmen die volle Verantwortung für ihn. Das alles löst unser Problem nicht.
Auch wenn er am liebsten einfach nur zur Schule gehen würde, um seinen Schulabschluss nachzuholen, ist der Ausbildungsplatz seine einzige Chance, um hier bei uns bleiben zu können.
Wir finden ein Unternehmen, das ihn nimmt und ich mache in diesen turbulenten Tagen Porträtfotos von ihm. Sie zeigen ein Gesicht, das so viel gesehen und erlebt hat.
Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Fünf intensive Jahre mit vielen up’s and down’s. Ich lerne täglich von meinem Sohn und er von mir. Manchmal ist er mein Coach. Wir sprechen ausschließlich deutsch miteinander, auch wenn es Eddy immer noch zu langsam geht. Er ist schnell mit seinen Gedanken, möchte viel sagen, hat sehr viel zu sagen.
Manchmal sitzen wir beide einfach so beisammen und es entspinnt sich zwischen uns ein Dialog über die Dinge des Lebens. Er stellt Fragen: „Warum leben hier viele Menschen auf der Straße? Warum ist Opa im Pflegeheim und nicht bei uns? Warum dürfen so viele Leute, die hierher gekommen sind, nicht arbeiten, obwohl Deutschland Arbeitskräfte braucht?“
Als ich ihn frage, warum er mit uns lebt, sagt er: “Ihr seid anders und ich bin auch anders.“
Es ist so, als würden wir uns schon immer kennen. Manchmal denke ich sogar, dass ich ihn geboren habe. Es ist einfach unglaublich intensiv mit ihm. Und ich fühle, dass es ein Teil von mir ist, der bisher noch nicht gelebt wurde. Verantwortung hatte ich bisher nur für mich selber übernommen. Jetzt ist jemand da, der mich braucht und der mich zwingt, viele Themen noch einmal neu zu denken.
Jeder geht seinen Weg in Freiheit
Wenn Eddy unterwegs ist, vermisse ich ihn und mein größtes Learning ist es und wird es sein, ihn auch irgendwann wieder loszulassen. Bisher habe ich mir noch nie in meinem Leben um einen Menschen Sorgen gemacht. Weder um mich noch um jemand anderen. Seit Eddy da ist, kenne ich dieses Gefühl. Es ist neu für mich.
Inzwischen weiß ich viel über seine Wurzeln, sein Land. Ich war selber noch nicht da, aber ich werde schon bald reisen. Vorerst ohne ihn, denn Eddy darf Deutschland nicht verlassen. Erwachsenenadoption schützt nicht vor Abschiebung und löst auch nicht das Thema Duldung. Ich weiß, dass der Weg lang sein wird. Aber es geht weiter. Langsam. Step by Step. Eddy geht diesen Weg. Er wird es schaffen. Gemeinsam werden wir es schaffen. Aus meiner eigenen Geschichte weiß ich, dass es immer offene Türen gibt. Das macht mich stark. Und er spürt das.
Seit einiger Zeit haben Eddy und ich eine gemeinsame Vision. Wir möchten zusammen in Ghana eine Schule bauen, wo das alte traditionelle Heilpflanzenwissen weitergegeben werden kann. Eine Schule mit großem Garten und einem Gästehaus für Besucher. Dieser Wunsch ist einfach so präsent und es passt alles gut zusammen. Eddy macht eine Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau, kennt eine Menge einheimischer Pflanzen und für mich ist es ein absolutes Wunschprojekt. In meiner freien Zeit beschäftige ich mich schon seit langem mit Heilpflanzen. Und so planen wir in unseren Vorstellungen schon fleißig und suchen aktiv nach Sponsoren und Förderern.
Unsere Familie vergrößert sich. Wir haben inzwischen ein Enkelkind – Eddys Tochter – und das ist ein richtiges Wunder. Ich war bei der Geburt dabei, durfte die Nabelschnur durchtrennen und habe alles fotografiert. Dieses Ereignis hat mich tief berührt.
Ich habe unsere Entscheidung bisher keinen einzigen Tag bereut oder in Frage gestellt.
Viele sagen: “Ihr seid mutig.” Aber es war eine Entscheidung aus dem Herzen heraus.
Für mich ist es wichtig, meinen Gefühlen zu folgen und mit dem Leben zu fließen.
Das hat mich bisher immer getragen.
Ich bin fest davon überzeugt: Alles passiert zum richtigen Zeitpunkt.
Photo Credit: Elke Schmidt
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Ich habe die DDR vor dem Mauerfall verlassen und hier komplett neu begonnen. Dieser erste große Einschnitt in meinem Leben hat mir die Gewissheit gegeben, dass ich es jederzeit, überall und immer wieder schaffe, von vorne anzufangen. Die Neugier auf andere Menschen war und ist dabei mein wichtigster Begleiter. Ich hatte schon immer einen großen Drang nach Freiheit und Individualität. Und ich besitze eine soziale Ader und bin gegenüber allem Neuen aufgeschlossen. Als ich mich mit vierzig selbständig gemacht habe, war das für mich eine Befreiung. Ich wollte schon früher Kunst studieren. Dieser Wunsch war fest in meinem Kopf drin und ich wußte genau, dass ich es irgendwann noch tun werde. Der Besuch der Kunstakademie parallel zu meiner freiberuflichen Arbeit hat mich sehr genährt und ich bin sehr glücklich darüber, es einfach gemacht zu haben.