Mein Weg führte mich über den Niederrhein nach Bremen und…
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ToggleVor einigen Jahren bekam ich eine wunderbare Reflexionsübung in die Hände, die meinen Blick aufs Leben nachhaltig veränderte. Diese Übung hätte ich gerne schon viel früher gekannt.
Die Übung geht so:
Stell dir dein Leben als eine liebevolle Wegbegleitung vor, die alle Höhen und Tiefen mit dir gemeinsam gegangen ist und gehen wird. Ihr zwei seid immer zusammen unterwegs. Nun ist der Tag gekommen, um deinem Leben einen Liebesbrief zu schreiben.
Was schreibst du?
So fing ich an zu schreiben, “Geliebtes Leben …”. Und auch, wenn der Brief irgendwann ein Ende fand, die Gedanken daran habe ich verinnerlicht.
Am Ende bringt es nichts, das Leben unfair zu finden. Liegt unsere Aufgabe nicht vielmehr darin, es anzunehmen, es lieben zu lernen und das Beste daraus zu machen – anstatt dagegen anzukämpfen? Es ergibt alles einen Sinn, wenn auch oft erst rückblickend.
Nichts bleibt, wie es ist
Als meine Mutter 1973 den Kampf gegen den Krebs verlor, war ich gerade mal ein Jahr alt. Damals wurde beschlossen, dass ich zur Adoption an meine Tante weitergegeben wurde.
So geschah es, dass ich nicht nur meine Mutter verlor, sondern gleichzeitig auch von da an von meiner 6 Jahre älteren Schwester und meinem leiblichen Vater getrennt aufwuchs. Ab dem Tag, an dem mein Vater die Adoptionspapiere unterschrieben hatte, bekam er Hausverbot und durfte meine Schwester Corina für viele Jahre nur noch zu Besuchen bei uns absetzen.
Als ich 12 war, verstarb dann auch noch meine geliebte Oma. Sie hatte mit uns im Haus gelebt und war für mich immer das Bindeglied zwischen diesen ganzen Eltern gewesen. Sie hatte dafür gesorgt, dass meine Schwester und ich in Kontakt blieben.
Zeitgleich war das der Beginn der Pubertät und mein Leben begann von nun an, auf eine sehr besondere Weise kompliziert zu werden.
“Geliebtes Leben, 1000 Dank dafür, dass ich über meine gesamte Kindheit hinweg eine Omi um mich hatte, die mir immer, wirklich immer zur Seite stand. Und auch, wenn beide Todesfälle tief traurig für mich sind, so haben sie mich schon früh gelehrt, dass nichts im Leben selbstverständlich ist und nichts bleibt, wie es ist. Unsere Lebenszeit ist wertvoll. Und endlich.”
Ein wirkliches Zuhause ist mehr als der Ort, wo du bist
Als ein Ventil zum Umgang mit meinen Emotionen und Problemen begann ich schon früh mit dem Tagebuchschreiben. Einmal, als ich mit 13 Jahren aus einer Ferienfreizeit zurück nach Hause kam, hatte meine Mutter beim Aufräumen meines Zimmers mein Tagebuch gefunden. Und gelesen. Und so kam es, dass sie völlig überfordert den Satz über die Lippen brachte: „Wenn du meine leibliche Tochter wärst, dann wärst du anders …“ Dieser Satz traf mich tief. Von jetzt auf gleich fühlte ich mich fehl am Platz und nicht mehr gewollt. Und meine Gegenreaktion war: „Wenn du meine leibliche Mutter wärst, dann wärst auch du anders …“
Ein Jahr später, es war in den Osterferien, war ich das erste Mal für mehrere Tage bei meiner Schwester im Haus meines leiblichen Vaters und seiner 2. Ehefrau zu Besuch. Sie wohnten in einem alten Anwesen in Weeze, am Niederrhein, etwa eine Autostunde von meinem damaligen Zuhause entfernt. Meine Schwester wuchs dort mit zwei weiteren Geschwistern auf und hatte ein Pferd. Das war ein ganz anderes Leben als bei mir als Einzelkind. Damals las meine Mutter mein zweites Tagebuch. Sie rief mich dort an und sagte mir, ich sei eine undankbare Adoptivtochter und solle dort bleiben, wo ich war.
Und jetzt? Ganz ehrlich: Ich fühlte mich da, wo ich war, nicht zu Hause, und da, wohin ich nicht mehr zurückgehen sollte … auch nicht.
Ich ging zurück.
“Geliebtes Leben, Dank dir habe ich früh gelernt, Halt in mir selbst zu finden. Auch wenn ich diese gemeinsame Erfahrung zunächst sehr schmerzhaft fand, so war es aus heutiger Sicht eine der größten Lektionen meines Lebens: Ich würde nie ohne Erlaubnis das Tagebuch meiner Tochter lesen. Ich wähle Vertrauen. Und: Ein wirkliches Zuhause ist ein Ort, an dem ich willkommen bin und so sein kann, wie ich bin.”
Es finden sich immer Wege
Meine Schulnoten wurden immer schlechter und ich verheimlichte das weitestgehend vor meinen Eltern. Als sich dann sechs Fünfen auf dem Zeugnis der 10. Klasse fanden, fielen meine Eltern aus allen Wolken. Drei Wochen später sollte ich für ein Jahr in die USA gehen, was nun auf dem Spiel stand, da mich die Ämter mit so einem Zeugnis nicht freistellen wollten. Nach vielen Gesprächen und Anträgen willigte das Kultusministerium dann doch ein und ich durfte fahren. Nach dem Jahr, so hofften meine Eltern, sollte dann alles einfacher für uns werden.
Wurde es aber nicht.
“Ach Leben, ich verbrachte ein aufregendes 17. Lebensjahr in Oregon, an der Westküste der USA. Dieses Jahr legte den Grundstein für meine Reiselust und meine späteren Auslandsjahre in den Niederlanden und in Guatemala. Danke für diese Erfahrung.”
Nach meiner Rückkehr musste ich nun das dritte Mal ins 10. Schuljahr, da mir das Highschooljahr in Deutschland nicht anerkannt wurde. Ich bewarb mich an mehreren Schulen; in meine alte wollte ich nicht zurück. Da ich mittlerweile beinahe volljährig war, war es schwierig, einen Schulplatz zu finden. An den Kommentar von einem der Schulleiter, Herrn Hammel, erinnere ich mich noch gut: „Mit dem Zeugnis hast du ja gar keinen Schulabschluss. Du könntest deinen Hauptschulabschluss an der Abendschule nachmachen.“ So langsam wurde mir der Ernst meiner Lage bewusst. Ich stand ohne Schulabschluss da.
Das wollte ich auf gar keinen Fall.
“Geliebtes Leben, damals wusste ich tatsächlich nicht, wie es mit mir weitergehen sollte.
Alle Erwachsenen um mich herum zeigten mir auf, was alles nicht geht. USA? Geht nicht. Schulwechsel? Keine Schule will dich. Und wir zwei? Wir fanden einen Weg. Wir fanden immer einen Weg. Ich glaube, wir waren wirklich schon früh ein gutes Team.”
Und es ist immer noch so viel mehr möglich
Schlussendlich fand ich einen Schulplatz an einer katholischen Mädchenschule. Nach einem Jahr wechselte ich für mein Abitur auf ein Gymnasium. Während der Oberstufenzeit verließ ich dann endgültig mein Elternhaus und wohnte ab da zur Untermiete in einem Zimmer auf einem Gutshof auf einem Hügel, erreichbar über eine Allee, umgeben von weiten Feldern.
Gefühlt hatte mein junges Leben bis hierhin aus vielen Episoden bestanden, die mich teilweise doch arg überforderten. Nach meinem Auszug wurde ein Rechtsstreit mit meinen Eltern zu unserem traurigen Höhepunkt und ich fühlte mich damals so allein wie nie zuvor. Nicht, weil ich keine Freunde gehabt hätte, sondern weil ich mir mit meiner Geschichte so allein vorkam, so anders als all die anderen um mich herum. Ich kannte niemanden, der bis dahin Ähnliches erlebt hatte, sich ähnliche Gedanken machte. Daher war ich froh und dankbar dafür, dass die Tante eines Freundes Psychologin war und mir während der Oberstufenzeit Hilfe anbot, die ich gerne annahm.
“Liebes Leben, danke, dass wir damals so liebe Freunde hatten. Und weißt du, ich habe in der Zeit gelernt, dass ich auch auf bisher unbekannten Wegen Hilfe finden kann. Danke, dass du mir die Begegnung mit meiner Therapeutin Frau Geller geschenkt hast. Außerdem bin ich dir von Herzen dankbar dafür, dass meine Eltern und ich zu einem späteren Zeitpunkt im Leben auf gewisse Weise unseren Frieden miteinander gefunden haben. Erinnerst du dich? Das war nach der Geburt meiner geliebten Tochter Liv.”
Vom Suchen zum Finden
Nach einigen Jahren der Selbstfindung, inklusive einem abgebrochenen Psychologiestudium, zwei weiteren Auslandsjahren in Guatemala und in den Niederlanden, dem Studienabschluss der Kulturwissenschaft und etlichen schlecht bezahlten Praktika beim Dokumentarfilm, fand ich mit 32 Jahren „endlich“ meine berufliche Ausrichtung!
Ich hatte einen NLP-Kurs besucht und war derart begeistert davon, Menschen um mich herum zu finden, die auch etwas vom Leben „wollten“. Ich war so dankbar, dass ich mich über Werte, den Sinn, Motivation und innere Haltung austauschen konnte. Ach, wie hatte ich das all die Jahre zuvor vermisst. Und da ich es gerne so viel früher kennengelernt hätte, war mir auch klar, dass ich dieses Wissen lehren und weiterverbreiten will. Ich fühlte mich mit all dem angewandten Wissen so viel stärker, selbstbestimmter, verbundener. Und so machte ich das Teilen von Wissen in Trainings und Coachings zu meiner Lebensaufgabe.
Von nun an ging alles ganz schnell.
2007 beschlossen drei Kolleginnen und ich, eine GbR zu gründen und loszulegen. Damals hatte ich noch kaum Kund*innen – auch kein Geld -, aber das überzeugte und überzeugende Wissen in mir, dass das richtig gut werden würde. Also nahmen wir uns einen Existenzgründungsberater, ich erhielt einen Gründungskredit von 10.000 Euro, was damals richtig viel Geld für mich war, und es sollte losgehen.
Wir fanden wunderbare, repräsentative Räume in bester Lage in Berlin, bewarben uns dafür und bekamen sie auch.
Startklar unterzeichneten wir am 18.1.2008 unseren mehrjährigen Gewerbemietvertrag. Ich war total aufgeregt und glücklich, wenn auch noch ohne nennenswerte Aufträge.
“Geliebtes Leben, erinnerst du dich noch? Damals hast du mich noch mal geprüft. Du hast mir die Frage gestellt: Willst du das wirklich und kannst du dir das alles wirklich vorstellen – auch als werdende Mutter?”
Denn plötzlich, am 28.1.2008, hielt ich gemeinsam mit meiner Schwester am Küchentisch meiner Wohnung einen positiven Schwangerschaftstest in Händen. Ich war schwanger von einem Mann, den ich gerade mal 8 Wochen kannte, der in einer anderen Stadt lebte, dort zwei wunderbare Töchter hatte und eine Firma.
Und jetzt?
Von “entweder oder” zu “sowohl als auch”
Im ersten Moment wollte ich einen Wein trinken und eine Zigarette rauchen. Das schien mir jetzt auf einmal keine angemessene Reaktion mehr zu sein.
Ich rief Stefan, den Vater des Kindes, an und sagte ihm am Telefon, dass ich schwanger sei. Er sagte: „Das ist doch schön.” (Pause) „Oder?“
Meine Gedanken schossen unsortiert durch den Kopf: „Ja. Vielleicht. Nein. Doch. Oder?“
Keiner, wirklich gar keiner in meinem damaligen Berliner Freundschaftskreis hatte Kinder. Ich war jedoch 36 Jahre alt und hatte das Gefühl, dass diese Schwangerschaft eine Grundsatzentscheidung in meinem Leben sein sollte. Ich wusste nicht recht, mit wem, außer meinem Partner und meiner Schwester, ich darüber reden wollte. Ich vereinbarte einen Beratungstermin bei der Familienhilfe, dort ging ich aber nicht hin. Ich sprach mit zwei Männern, die schon Kinder hatten. Mein Schulfreund Stefan sagte: „Du interessierst dich doch so für Menschen und die Entwicklung von Menschen. Jetzt kannst du einen Menschen vom ersten Tag an begleiten. Das ist doch super!“ Und mein ehemaliger Bürokollege Benno meinte: „Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft oder ein Kind. Stell dir mal vor, du wärst jetzt gerade 2-3 Jahre selbstständig und schon richtig gut im Geschäft. Wäre das dann wirklich passender? Glaub mir, da, wo das eine wächst, da wächst auch das andere.“
Ich hatte eine Entscheidung zu treffen. Alleine. Zumindest fühlte es sich so an. Stefan kannte ich gerade erst wenige Wochen, von ihm wollte ich meine Entscheidung nicht abhängig machen. Mit meinen vielen Elternteilen wollte ich nicht reden, bevor ich für mich keine Entscheidung getroffen hatte. Und mit meinen beiden Mitgründerinnen auch nicht, da wir doch gerade mit vollem Schwung beim Renovieren waren und ich uns nichts unterbreiten wollte, von dem ich selbst noch so gar nicht wusste, wie es weitergehen könnte.
Und dann, es war auf dem Weg zur Party einer Freundin, da wurde mir klar, dass ich meine Entscheidung bereits getroffen hatte.
Wie?
Ich fühlte mich zu zweit. Ich hatte ein neues Leben bei mir im Bauch. Ich dachte an mutmachende Geschichten und auch daran, dass ich nun für die nächsten 20 Jahre eine Mitbewohnerin oder einen Mitbewohner haben würde. So lange hatte ich noch nie mit jemandem zusammengelebt. Und was soll ich sagen? Es fühlte sich auf einmal machbar, stimmig, richtig und ehrlicherweise abenteuerlich gut an.
Und somit erzählte ich es herum, meine Entscheidung war gefallen und ich freute mich!
“Liebes Leben, das war damals wirklich eine der besten Entscheidungen, die ich jemals getroffen habe! Danke dir von Herzen für diese besondere Gelegenheit!”
Nun gab es viel vorzubereiten! Schließlich hatte ich mich gerade erst selbstständig gemacht und wenn ich arbeiten können wollte, so würde ich nach der Geburt Unterstützung brauchen!
Stefan lebte 500 km weit weg, meine Eltern und meine Schwester fast 700 km und alle anderen um mich herum waren ausreichend mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Zum Glück fand ich schon vor der Geburt eine Nenn-Omi in Berlin.
Dank ihr ging ich gedanklich entspannt durch meine Schwangerschaft, körperlich nahm ich allerdings 36 Kilo zu. Und als ich nach dem Kaiserschnitt und einer Woche im Krankenhaus dann alleine nach Hause geschickt wurde, da hatte ich ganz schön Respekt vor dem, was vor mir lag. Stefan wurde in Frankfurt gebraucht. Meine Hebamme und eine liebe Freundin waren jedoch an meiner Seite und somit hatten Liv und ich dann doch einen ganz schönen gemeinsamen Start in unserem Zuhause.
Und immer, wenn ich anfing, mich verrückt zu machen, nicht wusste, wie das alles gehen sollte, sagte ich mir: “Du hast bisher alles geschafft, was dir wichtig war. Du wirst auch in Zukunft alles schaffen, was dir wichtig ist.” So war es auch.
“Omi Berlin” brachte mir meine Tochter damals zu den Pausenzeiten zum Stillen in meine Seminare, was eine große Erleichterung für mich war.
Stefan und ich wussten zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht, wie wir uns am besten organisieren könnten.
Und hingegen jeglicher Prognosen, die andere uns mit auf den Weg gaben:
Wir sind bis heute ein Paar und leben gemeinsam in Berlin.
Ich arbeite nach wie vor als Coach und Trainerin in mittlerweile eigenen Seminarräumen.
Und auch, wenn mir die letzten 2 Jahre der Pandemie finanziell und auch organisatorisch erheblich zugesetzt haben, so konnte ich immer wieder neue Wege finden.
“Denn darin bin ich, dank dir, liebes Leben, mittlerweile richtig gut. An dieser Stelle noch ein letzter großer Dank für unsere bisher erlebten 51 Jahre. Dank dir können wir heute diese 3 wertvollen Lebensweisheiten teilen:
- Sorge gut für dich.
- Höre auf deine innere Stimme und folge deinen Träumen.
- Es finden sich immer Wege.”
Aus Liebe zum Leben – Sandra
Ibiza, 31. 10. 2022
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Mein Weg führte mich über den Niederrhein nach Bremen und über die USA, die Niederlanden und Guatemala direkt nach Berlin, wo ich seit 2000 lebe und arbeite. Mittlerweile bin ich Gründerin von SinnKultur, mit eigenen Seminarräumen am Prenzlauer Berg und privat lebe ich mit meiner Tochter Liv und meinem Herzensmenschen Stefan zusammen. All die Ablenkungen der Metropole haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich immer wieder gut verbunden mit sich auf das Wesentliche zu fokussieren und so habe ich mich nach meinem Kulturwissenschaftsstudium zum Coach und zur Trainerin ausbilden lassen. Seit 2007 lehre ich, was ich lebe und bin froh und dankbar, meinen Platz auf dieser Welt gefunden zu haben. Was ist das wichtigste im Leben? Die Liebe zum Leben. Dadurch wird alles möglich.